Für die Anreise nach Neukirchen am Großvenediger mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauchst du viel Geduld, schrieb Florian Gantner, der mich für Literatur findet Land engagiert hat. Vor einem Jahr hat eine gewaltige Flut das Gleis der Pinzgauer Lokalbahn unterspült, die von Mittersill nach Krimml führt. Nach Mittersill fahr ich gern. Mittersill mag ich. Sobald ich Mittersill höre, überkommt mich ein Gefühl der Erleichterung. Das hat mit Professor Rümmele zu tun.
Professor Rümmele war acht Jahre lang mein Klassenvorstand. Er war mein Geografielehrer und Turnlehrer. Er war unfähig, sadistisch und hat seine Macht missbraucht. Im Turnunterricht knatterte er auf dem Moped die Dornbirnerach hinunter zur Furt und ließ die Buben in seinen Abgasen rennen bis sie gekotzt haben. Beim Schulausflug ließ er sich seinen Rucksack von uns schleppen. Der Rucksack war voller Bierdosen.
Professor Rümmele ist tot. Sonst würde ich seinen Namen hier nicht erwähnen. Warum eigentlich nicht? Sollte es neben #MeToo und #SexuellemMissbrauchInDerKirche noch eine Debatte geben? #MachtmissbrauchInDerSchule. Hätten wir nicht alle viele Geschichten zu erzählen?
Professor Rümmeles Unterricht sah folgendermaßen aus: Er schickte einen Schüler (“Du bist eh zu fett und brauchst ein Bewegung”) ins Geografiekabinett, um Dias zu holen. (Das sind diese eingerahmten, durchsichtigen Foto-Bildchen aus dem vorigen Jahrhundert, die meist aus dem Kasten fallen und falsch eingeordnet werden). Unterdessen mussten zwei andere im Klassenzimmer den Diaapparat aufbauen. Jemand musste die schweren Plastik-Vorhänge vorziehen. Jemand – meistens die Schülerin mit dem kürzesten Rock – bekam die Aufgabe, um die sich alle rissen: Die Dias weiterzuklicken.
Der Legastheniker unter uns (“Bei der Gelegenheit kannst du gleich Lesen üben”) bekam ein kleines Heftchen in die Hand gedrückt. Weil es im Klassenzimmer zu dunkel war, und weil der Legastheniker zusätzlich eine Sehschwäche hatte, quetschte er sich hinter den Vorhang ans Fenster, wo er zwar Helligkeit und brütende Sonne abkriegte, von den Dias aber nichts mitbekam.
Die Show begann: Wir saßen im Dunkeln und hörten von hinter dem Vorhang eine dumpfe Stimme, die stotternd las: “Dia Nummer 1: Die Geschichte des Ural reicht bis ins frühe Paläozoikum. Zwischen den Urkontinenten Sibieren und Fennosarmatia wurden über Jahrmillionen hinweg Sedimente abgelagert, die sich nachfolgend zu Sedimentgesteinen verfestigten und dann gefaltet wurden, blablabla.”
Die ersten gähnten beim Wort “Paläozoikum”. Spätestens beim Wort “Sedimente” ertönte der erste Schnarcher. Darauf folgte ein lautes “Aua”, denn Professor Rümmele marschierte wie Napoleon durch die Reihen und warf seine Wurfgeschosse in alle Richtungen. Professor Rümmele liebte seine Wurfgeschosse, die er in seinen Hosensäcken sammelte und die er auch vom Pult aus loslassen konnte: Kleine Bleistifte, Papierknäuel, Radiergummi, Kreiden, Schlüssel. Sein Arsenal war groß. Und kriegst du mal eine Kreide volle Kanne auf die Stirn, auf die Schläfe oder auf den Hinterkopf, dann verkneifst du dir das Schnarchen.
Sobald alles ruhig war und nur noch das dumpfe, kaum hörbare Gestotter von hinter dem Vorhang drang, verließ Professor Rümmele das Klassenzimmer und verbrachte den Rest der Stunde Kette qualmend vor der Tür. Professor Rümmele rauchte Hobby Extra. Der Qualm kroch unter der Tür durch. Hin und wieder riss er die Tür auf und streckte seinen Kopf herein, um zu überprüfen, ob sein Unterricht noch lief.
Der Unterricht lief wie am Schnürchen. Dass die Dias teilweise seitenverkehrt waren, auf dem Kopf standen, oder Detroit zeigten, obwohl vom Ural die Rede war, interessierte niemanden. Dann waren die Dias durch und der Lesende meinte: “Ich bin aber erst in der Hälfte.” Dann sahen wir die Dias einfach noch einmal, oder zweimal, es kümmerte keinen.
Zum Test wurden wir dann geprüft über den Ural. Unterlagen gab es keine. Wikipedia gab es auch noch nicht. Wer beim Diavortrag nicht aufgepasst oder eine Mitschrift angefertigt hatte, war selbst schuld. Es hagelte viele Fünfer in Geografie. Ich hatte Angst vor Professor Rümmele, lernte viel und schlüpfte mit Vierern durch. Ich hatte acht Jahre lang Vierer in Geografie. Motivierend war das nicht.
Besonders gern mochte Professor Rümmele die Schwarze Karte. Die ließ er aus dem Kabinett holen. Er ließ sie an der Tafel aufhängen. Auf der Schwarzen Karte waren nur die Grenzlinien und die Hauptflüsse von Österreich eingezeichnet. Er warf eine Kreide nach uns, ließ uns vor der Tafel antreten und schmetterte den Namen einer x-beliebigen Gemeinde: Attnang-Puchheim, Rappottenstein, Groß-Enzersdorf, Schoppernau. Wir mussten dann ins Schwarze tippen und zeigen, wo der Ort war. Alle hofften auf Mittersill. Mittersill liegt genau in der Mitte. Jeder findet Mittersill. Mittersill brachte einem ein Plus bei Professor Rümmele.
Daran dachte ich, als ich in Mittersill an einem Bahnsteig wartete, den die Flut ein Jahr zuvor weggespült hatte, um nach Neukirchen am Großvenediger zu fahren, wo ein zauberhaftes kleines Lesefest stattfand, über das ich hier eigentlich schreiben wollte. Zum Glück hat das Karl Traintinger gemacht. Er machte auch diese Foto von mir. Ich merkte es nicht. Ich lag in einer duftenden Wiese unter dem Schirm. Es begann zu regnen und unter dem Getröpfel schlief ich ein. Der beste Mittagsschlaf seit Ewigkeiten. Ich war entspannt, müde und zufrieden. Am Vormittag waren nach den Volksschulkindern Jugendliche vom Gymnasium in Mittersill zur Lesung gekommen. Sie haben alle das Buch von Leander Blum gelesen und mir großartige Fragen gestellt. Wieder einmal hat mir Mittersill ein wohliges Gefühl beschert.
(Professor Rümmele würde mir an dieser Stelle einen Fünfer verpassen für Themenverfehlung. Aber Professor Rümmele – der kann mich mal.)