Der letzte Corona-Winter, als ich in Wien an einem schwierigen Text über die Opfer des Zweiten Weltkrieges in Dornbirn schrieb und viel allein war, steckt mir tief in den Knochen. Ein ewig grauer Winter, der nicht vergehen wollte. Diesen Winter – Corona hin oder her – verbringe ich in einem anderen Land. Wenn schon Winter. Dann richtig. Vielleicht hilft mir bei der Bewerbung um eine Schreibresidenz im Gunnarshuís in Reykjavik, dass meine Sunny-Valentine-Bücher ins Isländische übersetzt wurden. Am Tag nach Weihnachten breche ich auf.
In meiner ersten Nacht rüttelt mich jemand zornig aus dem Bett. Eines von vielen Erdbeben. Neun Uhr früh. Finstere Nacht. Ab zehn beginnt es langsam zu dämmern. Gegen Mittag taucht die Sonne auf und wirft lange Schatten. Die Sonne schrammt am Horizont entlang, um gegen drei wieder zu verschwinden.
Bei Minus zehn Grad kämpfe ich mich gegen eisigen Sturm ins Schwimmbad – eingepackt in Skiunterhosen, mit dicker Mütze, Islandpullover und Handschuhen. Den Dampf sehe ich von weitem. Die Überwindung, im Bikini ins Freie zu gehen, ist groß. Wie soll ich das denn schaffen? Die spinnen doch. Kleine Kinder rennen triefend an mir vorbei, die Haut rot gefroren oder gekocht. Vom Schwimmbadrand hängen Eiszapfen. Dann sitze ich zwischen Wikingern im 40 Grad heißen Wasser und köchle vor mich hin. Für den Rest des Tages bin ich tief erwärmt. Die besten Bäder werden daran gemessen, wo die interessantesten Gespräche stattfinden. Familien mit Kindern. Die Premierministerin. Björk. Künstler. Postboten. Taxifahrer. Alle sitzen in einem Topf.
Ich kaufe mir Spikes für die Schuhe, muss mich trotzdem an einen Laternenmasten klammern, weil ich gegen den Wind nicht ankomme. Einmal stürmt es so heftig, dass ich mich nicht traue, den Müll rauszubringen, ohne von einem Dachziegel oder einem Ast erschlagen zu werden – 30 Meter pro Sekunde finden selbst die Isländer viel.
Ich erlebe spektakuläre Sonnenauf- und Untergänge. Ich erlebe Eisstürme, Eisschnee, Schneeregen, Schneeorkane, Schneeregen und graue Tage, an denen es gar nicht hell wird. Jeder Schritt vor die Tür ist ein Erlebnis.
Ich lerne interessante und nette Menschen kennen. Ich lade Gäste ein und koche Kurkumasuppe, die mir um die Ohren fliegt. Drei Tage muss ich schrubben. Ich helfe ein Sofa in einem Sommerhaus zu reinigen und scheitere an einer Mausefalle.
Ich fahre um den Walfjord, sehe die Walfangstation, alte Nato-Stützpunkte und stehe vor einem Grab von einem Busfahrer, der erfroren ist. Ich atme den Schwefelgeruch dampfender Schlammtöpfe ein. Ich gehe auf Kratern spazieren, kämpfe mich im Sturm durch das älteste Parlament der Welt, sehe zugefrorene Wasserfälle, Pferde und Vögel: Wildenten, Wildgänse, Singschwäne.
Ich gehe ins Bio-Paradies und schaue mir isländische, schwedische, dänische und finnische Filme an. Ich schreibe in Kaffeehäusern und im Eymundsson, dem Buchladen. Ich schleppe meine Einkäufe von Kronan nach Hause und decke mich in der Vindbudin mit Alkohol ein.
Bei dichtem Schneefall gehe ich quer durch die Stadt zur Ausstellungseröffnung der großartigen Künstlerin Kristin Gunnlaugsdottir. Die Ausstellung befindet sich in einer Tiefgarage neben einer Tankstelle – man kann mit dem Auto um die Ausstellung fahren. Kunst to go. Niederschwelliger geht es nicht. Hallgrimur Helgason ist auch dort. Er wohnt zwei Häuser neben mir und ich verschlinge seine Bücher.
Ich lerne Joachim B. Schmidt kennen. Seinen Roman “Kalman” mag ich sehr. Im Februar erscheint bei Diogenes sein neuer Roman “Tell”. Ich bin viel mit Anne Siegel unterwegs, die mit ihrem Buch “Frauen Fische Fjorde” vergessene Geschichten ins Land geholt hat. Wir fliegen in einem Höllenritt mit einer Propellermaschine nach Akureyri in den Norden, bleiben eine Woche. Ich bin froh, meine Thermohose eingepackt zu haben, sehe mein erstes Nordlicht und werde süchtig. Keine Nacht vergeht, ohne dass ich rausgehe, um den Himmel abzusuchen.
An einem Nachmittag bin ich plötzlich der einzige Mensch auf der Straße. Lockdown, denke ich mir, jetzt ist Island im Lockdown. Nein, ganz Island sitzt vor dem Fernseher und schaut Handball. Ein ähnliches Phänomen erlebe ich an Silvester, als die Böllerschüsse schlagartig verstummen, weil ganz Island den kabarettistischen Jahresrückblick im Fernseher verfolgt. Beim nächsten Handballmatch bin ich dabei. Ich sitze in einer gemütlich Wohnung, schwinge die Islandfahne und springe euphorisch jubelnd auf, wenn die Isländer ein Tor schießen.
Ich kann schon ein Wort isländisch. Es klingt so ähnlich wie “hertna” und heißt also, also genau gar nichts und ist deswegen sinnlos.
Ich esse Fisch, Skyr und süßes Roggenbrot. Ich lerne zu schlafen, stehe oft nicht vor elf Uhr auf. Ich vermisse meine Bialetti. Und ich schreibe. Eine Woche bleibe ich noch. Ich freue mich auf zuhause, auf Licht und Frühling. Ob meine Island-Sehnsucht gestillt ist? Ich weiß es nicht. Mal sehen, wohin es mich nächsten Winter zieht.